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Vivienne Westwood mit einem T-Shirt mit einem Aufdruck: "Destroy", ein Bild der Queen, ein Hakenkreuz

Vivienne Westwood | tvthek.ORF.at

ROBERT ROTIFER

Danke für die Musik.

In Großbritannien hatten wir 2022 Boris Johnsons Abgang, die Katastrophe Liz Truss, eine verstorbene Queen, den Zusammenbruch des öffentlichen Gesundheitssystems für Nichtkönig*innen und jetzt auch noch den Tod von Vivienne Westwood. Wir sind mürbe, aber noch lange nicht fertig.

Von Robert Rotifer

Beginnen wir diesen kleinen Rückblick auf meine Kolumnen hier aus dem vergangenen Jahr doch mit einer Geschichte über Vivienne Westwood, die uns gerade im Alter von 81 Jahren verlassen hat (Kollegin Savanka Schwarz hat ihr bereits diesen Tribut gewidmet).

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Meine Anekdote zu ihrem Gedenken hat nichts mit Westwoods Umweltaktivismus, aber auch nichts mit ihr von der Königin verliehenen Orden (wir ersparen uns die immerselbe Story von der fehlenden Unterhose) oder ihren Österreich-Verbindungen through marriage or otherwise zu tun. Schon eher mit ihrer Phase als Begründerin der britischen Punk-Ästhetik, ausgehend von ihrem Shop in der King’s Road in Chelsea, den sie (mit ihrem damaligen Partner und Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren und Verkaufspersonal wie Chrissie Hynde oder der ebenfalls dieses Jahr verstorbenen, legendären Jordan) von 1971 an unter den wechselnden Namen „Let It Rock", „Too Fast To Live, Too Young To Die", „SEX", „Seditionaires", später unter dem volksmündlichen Rufnamen der Nachbarschaft „Worlds End" betrieb.

Letztes Jahr spielte ich ein paar Meilen nordöstlich davon mit einer Band an einem anderen Wahrzeichen der Londoner Punk-Geschichte, dem Keller des Pubs Hope & Anchor zu Islington, Schauplatz unzähliger historischer Gigs. Beim Soundcheck sagte uns der Soundman, der Klaustrophobie induzierende, düstere, verwinkelte Raum sei zu jener Zeit vor 45 Jahren wohl ein paar Quadratmeter größer gewesen, dafür habe es dort damals keine Frauenklos gegeben.

Als oftmalige Konzertbesucherin habe Vivienne Westwood sich mit diesem Umstand arrangiert, indem sie einfach auf den Boden zu pissen pflegte.

Bis schließlich das Frauenklo eingerichtet wurde.

Finde, das ist eine passend symbolische Reminiszenz an eine Frau, die sich nie was geschissen hat und sich dementsprechend durchzusetzen wusste.

Und damit zum Nachruf auf ein Jahr, das bei allem, was die Leute ihm jetzt nachwerfen, auch nicht besser oder schlechter verlaufen ist, als man es beim derzeitigen Zustand des Planeten und seiner Einwohner*innenschaft erhoffen dürfte. Und das sage ich als einer, der am 30. August 2022 eine Kolumne mit dem fröhlichen, tatsächlich nicht bloß metaphorischen Titel „Hilfe, meine Insel sitzt tief in der Scheiße" veröffentlichte.

In diesem Sinne danke ich euch im Nachhinein für eure Geduld beim Mitverfolgen der diversen Phasen der institutionellen britischen Selbstzerstörung.

Anfang Jänner schrieb ich noch davon, wie „Operation Big Dog" - so der Codename zur Rettung des damals schon schwer skandalgeschüttelten Boris Johnson sich in einer Frontalattacke auf die BBC äußerte, zumal der Chairman der öffentlich-rechtlichen Anstalt auch der Ex-Chef (bei Goldman Sachs) von Rishi Sunak und damit einer seiner engsten Verbündeten sei. Sunak wiederum rangiere „momentan neben der Außenministerin Liz Truss als Boris Johnsons wahrscheinlichster Nachfolger und somit derzeit gefährlichster Rivale." Wir wissen, wie dieser Machtkampf neun Monate später schließlich ausgehen sollte.

Im Oktober versuchte ich hier zu erklären, warum der unaufhaltsame Aufstieg des reichsten aller britischen Premierminister keineswegs der emanzipatorische Moment für ethnische Minderheiten im Vereinigten Königreich war, als der er uns verkauft wurde. Ja warum Sunak vielmehr selbst ein Produkt des britischen Empire und der post-kolonialen Verwicklungen dessen langen Niedergangs ist.

Da wusste ich noch nicht, mit welcher ermüdenden Beharrlichkeit er Angriffe auf Asylsuchende (erst vor zweieinhalb Wochen starben wieder vier in den eiskalten Wassern des Ärmelkanals) zur Ablenkung von der Lebenshaltungskostenkrise nützen würde.

Aber auf dem Weg dorthin mussten wir 2022 noch ein paar Johnsonsche Trumpismen verdauen, vom beliebten Trick, seiner Opposition im Netz radikalisierte Verschwörungstheoretiker*innen auf den Hals zu hetzen über die seither gründlich normalisierte Irrsinnsidee, Asylsuchende zwangsweise nach Ruanda zu überstellen bis zu seinem langen, würdelosen Abschied (Teil 1 vom 6. Juli und Teil 2 vom Tag darauf).
Meine darin insinuierte Vermutung, dass Johnson zum Zeitpunkt seines Abgangs bereits seine Rückkehr plante, sollte sich übrigens nach dem Ende des ebenso kurzen wie katastrophalen Interregnums seiner Nachfolgerin Liz Truss bewahrheiten, und selbst wenn er dabei vorübergehend scheiterte, hat er damit – wieder eine Trump-Parallele – offenbar immer noch nicht genug. Allein die Tatsache, dass darüber schon wieder ernsthaft in Kolumnen spekuliert werden kann, demonstriert schon die ganze Verkommenheit der politischen Szene Großbritanniens.

Wenn ich jetzt zum Beispiel daran denke, dass ich allein dem Desaster Liz Truss drei Kolumnen gewidmet habe (eine ihrem Programm, eine dem desaströsen „fiskalen Ereignis“ ihres Schatzkanzlers Kwasi Kwarteng, das Britannien über Nacht in eine tiefe Schuldenkrise stürzte, eine ihrem darauf folgenden, schnellen Rauswurf), dann finde ich ja nur ungerecht, dass mir dabei nicht dieselben Stimulationsmittel zur Verfügung standen wie dem Stab der Premierministerin (Hausangestellte einer ihrer Residenzen sollen nach ihren Einstandsfeiern dort Spuren von Kokain gefunden haben, was allerdings doch einiges zum Verständnis der hybristisch-frenetischen Regierungslinie jener Periode beitragen würde).

Irgendwie ging es sich für mein Heimatland zwischendurch noch aus, ein surreal zelebriertes Krönungsjubiläum der Queen und den Trauerexzess nach dem Tod der Jubilarin unterzubringen. Kein Wunder, dass sich das ganze Land so anfühlt, als wäre es 2022 um mindestens fünf Jahre gealtert.

Was ja auch okay ist, nichts falsch am Altwerden. Nur krank sollte man dabei halt nicht werden, in Großbritannien jedenfalls. Die Leute glauben ja immer, ich übertreibe hier so maßlos mit meinen Geschichten vom Zusammenbruch der selbstverständlichsten Einrichtungen des Wohlfahrtsstaats, einstweilen ruft das Gesundheitssystem im englischen Nordwesten die Bevölkerung dringend auf, nur mehr bei akut lebensbedrohenden Fällen in die Not- und Unfallabteilungen zu kommen , nachdem hunderte frierend vor den Türen der Notaufnahmen von Krankenhäusern warten mussten.

Und weil es Twitter trotz seines durchgeknallten Eigentümers irgendwie noch immer gibt, könnt ihr das zum Beispiel hier in einem Thread von George Monbiot aus selbst erlebter Perspektive nachlesen:

Aber immerhin, wir haben (wie am 24. August berichtet) ABBA zum Trost. Potenziell für immer, unsterblich, jedenfalls, solange es Strom gibt (immer diese lästigen Vorbehalte).

Wir sollten uns einfach alle zu 3D-Avataren machen lassen, die altern nicht und brauchen kein Essen, kein Geld und kein Krankenhaus. Also, When All Is Sad And Done: Dance While The Music Still Goes On. Thank You For The Music & Move On.

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